9.3.2019
Kunsthaus Interlaken
«Chinese Art Today»
VERNISSAGEREDE
Als ich für diese Vernissage-Rede angefragt wurde, war ich erst einmal überrascht. Eine Ausstellung mit vier zeitgenössischen Kunstschaffenden aus China in Interlaken? Die letzten grossen Ausstellungen zum Thema fanden am Kunstmuseum Bern mit «Mahjong» 2005 und «Chinese Whispers» im Jahr 2016 statt. Und nun eine Ausstellung zum Thema China in Interlaken mit seinen knapp 6000 Einwohnern?
Bei näherer Betrachtung ist diese Ausstellung selbstverständlich genau am richtigen Ort. Seit 2007 haben sich die Logiernächte der Gäste aus Fernost verzehnfacht. 2017 betrug der Marktanteil der Besucher aus China und Hong Kong über 13% und machte dabei die zweitgrösste Übernachtungsgruppe bei mehr als 1,3 Mio. Logiernächten aus.
Die Lage Interlakens ist dabei in zweifacher Hinsicht einmalig. Zum einen als Ausgangspunkt für eine Fahrt aufs Jungfraujoch. An Spitzentagen besuchen bis zu 5000 Personen pro Tag diese einzigartige Naturkulisse. Zum anderen befindet sich der Ort zwischen den zwei Seen auf der, touristisch gesprochen, goldenen Linie. Mailand, Interlaken, Luzern und Paris sind vier der Perlen, die sich auf dieser Nord-Süd-Achse durch Europa befinden. Interlaken und das Jungfraujoch sind dabei absolute Must-Sees. Als logische Konsequenz muss daraus folgen, dass eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Kultur und den Gepflogenheiten, aber auch der Kunst der Gäste stattfindet. Auf Tourismusebene wird das Völkerverständnis beispielsweise mit interkulturellen Workshops gefördert.
Das Kunsthaus Interlaken trägt diesem interkulturellen Austausch mit der Kunstausstellung «Chinese Art Today» Rechnung. Bereits letztes Jahr zeigte das Kunsthaus eine Schau zu chinesischer Kunst, damals lag der Fokus auf traditioneller Tuschemalerei. Im Sommer 2017 folgten vier klassisch ausgebildete Künstler dem Ruf in die Schweiz, um auf den Spuren berühmter Maler wie Caspar Wolf, William Turner oder Ferdinand Hodler zu wandeln. Die Ursprungsidee, die chinesischen Künstler an Orte zu bringen, die bereits von den historischen Vorbildern festgehalten worden waren, wurde von den Gästen jedoch unterlaufen. Die ungewohnte Schweizer Berglandschaft bot den Kunstschaffenden eine solche Fülle an Inspirationen, sodass die historischen Orte in den Hintergrund traten.
Der letztjährige Dialog zwischen der traditionellen chinesischen Tuschemalerei und der fremden Landschaft vereinte im Grunde zwei gegensätzliche Konzepte miteinander. Die meist im Atelier beheimatete Tuschemalerei machte sich in der Ausstellung «Changing Impressions» auf den Weg ins Freie und malte direkt nach der Berner Oberländer Natur.
Die aktuelle Ausstellung «Chinese Art Today» tritt in einen neuen Dialog. Sie nimmt den interkulturellen Austausch auf und präsentiert dieses Mal zeitgenössische künstlerische Positionen aus China. Dabei ist das Thema der Identität beziehungsweise die Auseinandersetzung damit ein zentraler Aspekt aller künstlerischen Arbeiten. Drei der vier Kunstschaffenden leben teilweise oder ganz in der Schweiz und Deutschland. Die geografische Dualität zwischen Herkunftsland und gegenwärtigem Lebensmittelpunkt, sprich die Beheimatung in zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen, wirft zwangläufig Fragen nach der Identität auf. Die vier ausgestellten Künstler beschäftigen sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema. Zum einen finden sich klare Referenzen an die Herkunft, sei dies beispielsweise mit der Verwendung traditioneller chinesischer Maltechniken. Zum anderen spiegelt die inhaltliche und kompositorische Auseinandersetzung einen in der östlichen Denkphilosophie verhafteten Wertekanon.
Gleichzeitig wird die westliche Kunst- und Kulturgeschichte neu verhandelt. Anleihen an die Pop-Art oder Referenzen zu Vertretern der Young British Artists eröffnen neue Blicke auf den eigenen Kulturkreis. Dieser Blick von aussen erlaubt uns, der Frage nach der eigenen kulturellen Identität nachzugehen und vermeintlich unumstössliche Ansichten mit neuen Augen zu sehen.
Es fällt auf, dass alle vier Kunstschaffenden mit verschiedenen Medien und Techniken arbeiten, häufig auch in Serien. Von Malerei und Arbeiten auf Papier über Videoarbeiten und Fotografie bis hin zu Installationen und multimedialen Werken.
Mit der Videoarbeit Elsewhere eröffnet Luo Mingjun gleich im Erdgeschoss die Ausstellung. Wir folgen der Künstlerin auf einem Spaziergang, der sie an Orte aus der Vergangenheit führt, die ihr mittlerweile fremd geworden sind. Der rasante Wandel Chinas wird in dieser Arbeit spürbar. Ehemals Vertrautes ist nicht mehr wiederzuerkennen, eine Verlorenheit der eigenen Herkunft stellt sich ein. Erinnerungen überlagern sich mit der Gegenwart. Der Titel Elsewhere bringt diese Unsicherheit auf den Punkt. Ein Ort weder hier noch dort, sondern irgendwo und nirgendwo.
Im ersten Obergeschoss knüpft Luo Mingjun an dieses Gefühl der Ortslosigkeit an. Die Künstlerin bedient sich dabei dem Medium der Zeichnung. Auf grossflächigen Papierarbeiten in schwarz-weiss eröffnet sie den Besucherinnen und Besuchern Situationen, die unterschiedliche Lesarten zulassen. In der zweiteiligen ArbeitSans parole von 2018 blicken wir auf eine Ansammlung Menschen. Die Gruppe blickt auf eine Situation oder ein Ereignis, das ausserhalb des Bildträger stattfindet. Den Betrachterinnen und Betrachtern bleibt es jedoch verborgen, wir können nur spekulieren. Dieses in der Schwebe lassen und Imaginationsräume zu eröffnen, zieht sich durch Lius Arbeit.
Tang Nannans Video Odyssey Smoking mutet beinahe fantastisch an. Über die Meeresoberfläche fährt ein Zug, die Lokomotive pflügt sich ihren Weg durch die Wassermassen und schwimmt obenauf. Der Horizont, die Trennung von Himmel und Wasser geht ineinander über beziehungsweise löst sich auf. Damit einher geht auch eine Auflösung von Zeit und Raum. Auf seiner Odyssee steuert der Zug dem Horizont entgegen, als befinde sich jenseits davon eine verborgene Welt.
Die Arbeit Billenium Waves wiederum verfolgt mit kontemplativer Langsamkeit die Wellenbewegungen des Meeres. Rückbezüge zur chinesischen Philosophie des Daoismus sind erkennbar. Die wiederkehrende Transformation des Elements Wasser ist genauso schnell vorüber wie sie sich stetig erneuert; innert Sekunden kommen und gehen die Wellengänge.
Wie lange würde es jedoch dauern, bis ein Berg wie beispielsweise der Himalaya im Meer versinkt? Jahrmillionen oder Jahrmilliarden? Die relative Vergänglichkeit der Zeit, die Transformation von Materie und die Verortung des Einzelnen in diesem Kosmos werden in Billenium Waves poetisch verhandelt.
Die Fotoserie Unknown Beach bleibt beim Thema Meer und setzt diesmal den Menschen ins Zentrum. Dem Zuschauer den Rücken zugewandt, ist der Blick zum Horizont über die Wassermassen gerichtet. Basierend auf einem chinesischen Sprichwort, was übersetzt soviel heisst wie «Vor der Weite des Meeres die eigene Bedeutungslosigkeit beklagen», verortet der Künstler seine Akteure am Strand.
Qiu Jies Verknüpfung westlicher Pop Art und chinesischer Ikonografie eröffnet mehrschichtige Bildwelten. Dabei referenzieren seine Bildfindungen von der chinesischen Sprache über die Werbeästhetik der 20er Jahre bis hin zu Propagandapostern, die den sozialistischen Realismus aufgreifen, einen collageartigen Kosmos. Im zweiten Obergeschoss können die Besucherinnen und Besucher in diesen magisch-realistischen Kosmos eintauchen. Die ortsbezogene Wandinstallation Da Zi Bao verteilt sich grossflächig über eine Saalseite. Die in Bleistift ausgeführten Arbeiten zeigen eine Fülle an Motiven, Situationen und Ebenen. Qius Verschmelzung von westlicher Pop-Art und chinesischen Alltagssituationen referenzieren verschiedene kulturelle Traditionen und Stile. Die politische Propaganda der Kulturrevolution übersetzt der Künstler ins heute. Logos westlicher Markenprodukte verweisen auf die ökonomische Propaganda der Gegenwart.
Qius Spiel mit Sprache lässt sich am Beispiel Portrait of Mao (2007) aufzeigen. In der chinesischen Sprache heisst «mao» Katze. Gleichzeitig ist es natürlich auch der Nachname des grossen Steuermanns Mao Zedong. Das Spiel mit der phonetischen Verwechslung führt nun zu einem Portrait, der etwas anderen Art. Wir sehen eine Katze, die in einer ikonischen Mao-Jacke steckt. Die Katze wird zur politischen Referenz im Werk von Qiu Jie.
Liu Guangyuns Bildserie Original colors (2017) untersucht die Möglichkeiten gefärbten Stoff in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuführen. Mit Hilfe von Bleichmittel wird der Prozess des Färbens rückgängig gemacht und an den ehemaligen Originalzustand herangeführt. Lius prozessorientierte Arbeitspraxis geht Fragen zum Thema Zeit beziehungsweise Zeitebenen nach; von alt zu neu und wieder zurück. Das Material Stoff spiegelt diesen zeitlichen Verlauf durch graduelle Veränderung wider und stellt dabei die Unumkehrbarkeit der Zeit ins Zentrum. Eine exakte Rückführung in den Originalzustand ist nicht mehr möglich, es entsteht ein neues Original.
Der in Deutschland und China lebende Künstler setzt sich in der Videoarbeit Bullet Channel mit den kulturellen Differenzen der chinesischen und der deutschen Kultur auseinander. Ein chinesisch-deutsches Wörterbuch, das Liu seit den 80er Jahren besitzt, versinnbildlicht den interkulturellen Diskurs. Die Übersetzungshilfe sollte sich jedoch nicht als Brücke in die neue Kultur erweisen, sondern deckte vielmehr die Unterschiede zwischen Ost und West auf. In einer performativen Aktion versucht sich Liu Guangyun von den Schatten der Vergangenheit und der Gegenwart zu befreien. Die Videoarbeit fängt diese Performance ein. Ein hinter dem Künstler platziertes Licht wirft seinen Schatten auf das Wörterbuch, das Liu mit einer Waffe ins Visier nimmt. Bei jedem abgefeuerten Schuss, der das Nachschlagewerk trifft, geht das Licht aus und somit erlischt auch der Schatten.
Den Akt des Schiessens zieht er in der Serie Sectional target weiter. Ausgehend von berühmten Bildvorlagen westlicher und östlicher Künstler, wichtige Referenzpunkte im Werke Lius, eignet er sich diese Vorlagen performativ an. Von Kugeln durchlöchert hinterfragen die Blechbildträger allzu vertraute Bildmotive und eröffnen dadurch neue Sichtweisen.
Die Ausstellung «Chinese Art Today» versammelt vier zeitgenössische Positionen aus China in einer vielschichtigen Ausstellung. Das vielfältige Spektrum der Kunstschaffenden vereint verschieden Techniken und Materialien, Geschichten aus Ost und West werden dabei miteinander verwoben. Es entstehen neue Einblicke in die vermeintlich fremde Kultur. Themen der Herkunft und Identität aber auch die Suche nach zwischenmenschlichen Verbindungen zeigen trotz aller Differenzen die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West.
In Zeiten polemischer und vereinfachender Bilder über allzu Fernes, liefert die Ausstellung ein facettenreiches Bild zu Fragen der Herkunft und Verortung. Fragen, die uns wahrscheinlich alle schon einmal umgetrieben haben. Diese Ausstellung liefert poetische, philosophische, mysteriöse und überraschende künstlerische Arbeiten dazu.
barbara.ruf@gmx.net